Eine szenische Lesung mit Fluchtgeschichten seit der NS-Zeit haben Jugendliche am 9. Juni in einem Projekt des Arbeitskreises auf die Bühne des Bürgersaals im Rehburger „Raths-Keller“ gebracht. Beeindruckt und berührt haben sie mit ihrer Darstellung von sechs Fluchtgeschichten.
Wahre Geschichten haben die Jugendlichen auf die Bühne gebracht und zwar solche, die ihnen von Flüchtlingen erzählt wurden. Manche dieser Flüchtlinge sind selbst dabei gewesen, haben im Rehburger Bürgersaal gesessen und die Inszenierung ihrer eigenen Geschichte gesehen. Wie Annchen Heymer, Loccumerin, gebürtig in Pommern und 1946 von dort vertrieben. Oder Karim Iraki, Nienburger mit Wurzeln in Palästina, der 1985 seine Familie im Libanon verließ und nach Deutschland floh.
Zuvor, als Patrick Pfeil und Alexander Kielmann an den Mikrofonen standen und davon erzählten, wie das Leben Irakis verlaufen ist, wie eine Nonne seine muslimische Familie rettete, wie er Kindersoldat wurde, in den Untergrund ging und schließlich keinen anderen Ausweg mehr sah, als die Flucht, mussten sie ihre ganze Konzentration aufbieten. Was sie dort vortrugen, hatte ihnen Iraki schließlich in langem Gespräch selbst erzählt. Ihre kurzen Seitenblicke auf ihn mit der stummen Frage „Werden wir deiner Geschichte gerecht?“ sprachen Bände von dem, was das Gespräch bei ihnen ausgelöst hatte.
Ähnlich wie diese beiden hatten sich auch die anderen Jugendlichen in „ihre“ Fluchtgeschichten vertieft, sich in ihre Rollen eingefühlt und so eine großartige, bewegende und berührende Aufführung zustande gebracht.
Sechs Leinwände deuteten zum Ende der Lesung auf sechs Schicksale hin und umfassten eine Zeitspanne von 77 Jahren. Angefangen bei der jüdischen Familie Hammerschlag, die 1938 aus Rehburg vor den Nazis floh, bis hin zu dem 14-jährigen Aman, der 2015 nach zweijähriger Flucht aus Eritrea im Landkreis Nienburg ankam.
Dass Flucht kein Phänomen ist, das erst im vergangenen Jahr begann, dass Flucht aus vielen Ländern und aus vielen stichhaltigen Gründen geschieht und für die Flüchtenden niemals eine einfache Entscheidung ist, und dass hinter jeder Flucht ein menschliches Schicksal steht, sind nur einige der Aspekte, die mit der Lesung deutlich wurden.
Insbesondere dem Publikum ihrer morgendlichen Lesung – 200 Schülern aus Schulen der Umgebung – verlangten die Akteure viel ab. Rund 90 Minuten aufmerksam zuzuhören, übersteigt eigentlich den Möglichkeiten der Aufmerksamkeit, die Schülern zugesprochen wird. Dass dennoch bis zur letzten Minute aufmerksam zugehört wurde, spricht dafür, wie fesselnd die Schilderungen waren. Das abendliche, erwachsene Publikum drückte seinen Eindruck mit rhythmischem, lang anhaltendem Applaus aus – nachgewirkt hat dort vermutlich auch der Schlussappell der Jugendlichen, die nach und nach an das Mikrofon traten und in sechs Sprachen einen Appell an ihre Zuschauer richteten:
in Hebräisch und Englisch, in Deutsch und Vietnamesisch, in Arabisch und auf Tigrynia: „Bitte, habt Geduld mit mir. Helft mir bitte, damit dieses Land mein Zuhause wird!“ Und auch der Refrain des Songs, den die Jugendlichen entwickelt haben, wird wohl noch nachhallen: „Irgendwann geht die Sonne auf. Irgendwann hört die Suche auf. Und dann sind wir zu Haus.“
Das Drehbuch zu der Lesung ist hier hinterlegt:
Die Veranstaltung wurde gefördert von:
Sechs Fluchtgeschichten bringen Jugendliche in einer szenischen Lesung des Arbeitskreises Stolpersteine Rehburg-Loccum am Donnerstag, 9. Juni, 19.00 Uhr, auf die Bühne des Rehburger „Raths-Kellers“. Allesamt sind es Schicksale aus der Region von Menschen, zu denen die Jugendlichen Kontakt haben – angefangen bei der jüdischen Familie Hammerschlag, die 1938 aus Rehburg floh, bis hin zu dem Jungen Aman aus Eritrea, der nach zweijähriger Flucht in 2015 in den Landkreis Nienburg kam.
„Sonst wären wir hier zu Hause“ – vor rund zehn Jahren stand Jose Hammerschlag auf dem jüdischen Friedhof in Rehburg, sah von dem Grabstein seines Urgroßvaters zu seinen Begleitern hoch und sagte diesen Satz. Zu Hause wäre er, der nun mit seiner Familie in Israel lebt, in diesem Rehburg, wenn die Hatz auf Juden in Deutschland nach der Machtergreifung durch die Nazis nicht gewesen wäre.
„Sonst wären wir hier zu Hause“ ist auch der Titel der Lesung. Geflohen oder vertrieben von zu Hause sind all jene, mit denen die Jugendlichen und weitere Mitglieder des Arbeitskreises gesprochen haben. Geflohen sind sie aus dem Deutschland der Nazi-Zeit, vertrieben aus Pommern, geflüchtet aus Palästina, Vietnam und Eritrea. Angekommen sind sie in Argentinien, Großbritannien und Deutschland. Manche Parallelen zeigen sich in den Schicksalen, jedes Schicksal ist dennoch einzigartig und berührend. Weshalb diese Menschen geflohen sind, was sie auf ihrer Flucht erlebten und wie sie angekommen und aufgenommen wurden – all das haben sie erzählt.
In der dritten Lesung dieser Art vom Arbeitskreis Stolpersteine – Texte aus Konzentrationslagern und die „Euthanasie“ der NS-Zeit waren die vorhergehenden Themen – steigen erneut neun Jugendliche auf die Bühne. Sie haben gemeinsam mit der Theaterpädagogin Christine Gleiss und der Schulpastorin Susanne von Stemm das Drehbuch entwickelt, die Lesung inszeniert und einige von ihnen haben einen eigenen Song zu den Fluchtgeschichten geschrieben.
Ihre Lesung werden sie am 9. Juni gleich zweimal aufführen.
Die morgendliche Lesung für Schulklassen ist jedoch bereits komplett ausgebucht. Wer hören und sehen will, dass „Flucht“ etwas ist, was sich auch durch die Geschichte dieser Region zieht, kann die Vorstellung um 19 Uhr bei freiem Eintritt besuchen. Einige derjenigen, deren Geschichten Teil der Lesung sind, werden dann ebenfalls dabei sein.
Gruppen, die zu der abendlichen Lesung kommen möchten, werden gebeten, sich unter der Nummer 05037/1389 anzumelden. Gefördert wird die Veranstaltung durch die VGH-Stiftung, den Landschaftsverband Weser-Hunte, drei regionale Geschäftsstellen der Volksbanken und durch die Stadt Rehburg-Loccum.
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„Faktencheck zur NS Zeit für Schüler“
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