„Weil es eine ganz andere Kindheitsgeschichte ist als deine, Nora“, deshalb schreibe sie ihrer Enkelin, wie ihre Kindheit verlaufen sei – eine Kindheit in Kriegs- und Nachkriegszeiten von 1938 bis 1950 in Pommern und anderswo. So beginnt das Buch, das die Loccumerin Annchen Heymer mit dem Titel „Liebe Nora…“ herausgegeben und mit einer Lesung auf Einladung unseres Arbeitskreises präsentiert hat.
Am Arm eines jungen Mannes, neben sich einen Hund, dahinter zwei Mädchen mit Zöpfen und roten Schleifen im Haar – so ist die 81-Jährige auf die Bühne der „Romantik Bad Rehburg“ vor großem Publikum getreten. Ein Tisch stand für sie bereit, an dem sie selbst aus ihren Kindheitserinnerungen vorlas, vom großen Waschtag in den 1940er Jahren, von dem Nachttopf, den ihr großer Bruder Jürgen sich zu Weihnachten wünschte, und vom gemeinsamen Spiel mit Zinnsoldaten. Schöne Erinnerungen sind es, die sie vortrug – und sicherlich auch andere, als Kinder heutzutage sie einmal an ihre Kindheit haben werden.
Annchen Heymers Enkelin Nora, für die sie diese Erinnerungen aufgeschrieben hat, saß im Saal in der ersten Reihe und hörte zu. Kurz davor hatte sie selbst noch auf der Bühne gestanden und gesagt, woran sie sich aus ihrer Kindheit mit ihrer Oma und ihrem Opa Eike erinnert: an das Baumhaus im Garten, in dem sie den von der Oma gebackenen Zwetschgenkuchen mit einem Flaschenzug nach oben zog, und an Tage auf der Wiese hinter dem Haus, wo sie mit ihrem Opa selbst gebaute Drachen steigen ließ. Eine behütete Kindheit sei das gewesen, für die sie dankbar sei. Umso schwerer falle es ihr immer noch, manche Passagen zu lesen, die ihre Oma für sie geschrieben habe, wenn sie daran denke, dass diese Oma - auf die sie so unglaublich stolz sei und die eine so lebenslustige, starke und mutige Frau sei - die Protagonistin dieser Erzählungen sei.
Einige der Szenen, die Nora Heymer so schwer nur lesen kann, trugen anschließend die drei jungen Begleiter Annchen Heymers vor. Sie erzählten –Serivan Bagari und Ülkü Kahraman als Annchen, Paddy
Pfeil als deren Bruder Jürgen – wie es damals war, als der Zweite Weltkrieg verloren und Flucht und Vertreibung aus Pommern das Leben der Autorin bestimmten. Erzählten davon, wie sie überstürzt
aus ihrer Stadt gejagt wurden, Unterschlupf auf einem Bauernhof fanden, wie es nachts an der Tür polterte und grölende Russen nach weiblicher Gesellschaft verlangten. Wie Annchen Heymers Mutter
der Aufforderung „Matka, komm!“ Folge leisten musste. Wie sie wenig später zurück in ihre Heimatstadt kommen durften, dort die Besetzung durch Polen und Russen erlebten, schließlich fort wollten
zum Vater, der bereits in Niedersachsen war und irgendwann Platz in einem Zug bekamen – in einem Viehwagen war Annchen Heymer zwei Monate unterwegs, bevor sie im Februar 1947 mit Mutter und
Bruder beim Vater in Bockenem am Harz ankam und ein anderes Leben beginnen konnte.
„In der Schule musste ich Jahreszahlen der für den Zweiten Weltkrieg bedeutsamen Geschehnisse lernen und eine Rede von Goebbels analysieren“, hatte Nora Heymer zu Beginn gesagt, „All das Gelernte
schien mir immer unglaublich weit weg von meiner Lebenswelt, irgendwie nicht real sondern eher wie eine besonders schreckliche Schauergeschichte.“ Die Geschichte ihrer Oma habe all das aber nah
an sie herankommen lassen.
Zu wissen, dass da jemand ist, der das tatsächlich erlebt hat, brachte auch den Zuhörern der Lesung diese Zeit sehr nah, machte sie real. Die szenische Präsentation mit vier Vorlesern tat ein
Übriges, um diesen Eindruck zu verstärken. Und Annchen Heymer ist sich mittlerweile sicher, dass sie mit der Veröffentlichung ihrer Kindheitserinnerungen den richtigen Weg gegangen ist.
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