Bitterkalte Minus 11 Grad Celsius zeigt das Thermometer an, es ist früh am Morgen, 9 Uhr. Keine idealen Bedingungen, um auf einem Gehsteig zu stehen und an die Gräuel des Nationalsozialismus zu erinnern. Dennoch füllt sich der Straßenraum schnell – pünktlich zum Beginn der Gedenk-Veranstaltung mit Verlegung einer Stolperschwelle stehen rund 100 Menschen vor der ehemaligen Synagoge in Rehburgs Zentrum.
Gunter Demnig, der Künstler, der das Kunstprojekt „Stolpersteine“ ins Leben gerufen hat, steht mit schwerem Gerät auf dem Bürgersteig und hebt einige durchgefrorene Pflastersteine aus dem Gehweg. Laut knattert es, die Arbeit ist an diesem Tag nicht einfach. Als er dazu übergehen kann, die Feinarbeiten zu machen, die für die Verlegung der glänzenden Schwelle mit der Inschrift „Die Synagoge der jüdischen Gemeinde Rehburg – in diesem Haus eingerichtet 1835 – zerstört 1938“ notwendig sind, beginnt auch die Gedenkveranstaltung, die unser Arbeitskreis Stolpersteine Rehburg-Loccum vorbereitet hat.
Der Bürgermeister der Stadt, Martin Franke, redet davon, dass Nazi-Terror und Judenverfolgung nicht irgendein geschichtliches Datum sind, sondern genau vor den eigenen Haustüren unter Beteiligung
der eigenen Eltern und Großeltern stattgefunden haben. Und davon, dass er es sich kaum habe vorstellen können, dass Begriffe wie „Rasse“ und „völkisch“ jemals wieder Einzug in gesellschaftliche
und politische Debatten halten würden. Dass das heute so sei – das lasse die Stolpersteine vor allen Dingen zu einer Mahnung zur Verantwortung derer werden, die heute leben.
Aus der benachbarten Wilhelm-Busch-Schule ist ein Chor erschienen, der „Shalom“ singt. Viele in der Menge stimmen mit ein. In dieser Menge steht auch Ingrid Wettberg, Vorsitzende der Liberalen
Jüdischen Gemeinde Hannover. Das Gedenken ist ihr wichtig – nahezu noch mehr aber auch das, was Franke angesprochen hat, nämlich über dieses Gedenken bewusst zu machen, dass sich nichts von jenem
wiederholen darf.
Wettberg hat ebenso wie Niedersachsens Kultusminister Grant Hendrik Tonne zugesagt, über diese Themen im Anschluss mit Schülern der benachbarten Förderschule zu reden. Die Aussicht auf dieses Gespräch ist für sie beide ein Grund mehr, in der beißenden Kälte zu stehen, Demnig zuzusehen und währenddessen die Geschichte der Rehburger Synagoge zu hören, die in der Pogromnacht vom 9. November 1938 in Rehburg ein jähes Ende fand. In jener Nacht wurden im kleinen Ort Rehburg die Häuser der jüdischen Mitbürger durchsucht, die männlichen Juden verhaftet, die Synagoge geschändet und deren Inventar auf dem Marktplatz verbrannt.
Am Marktplatz, auf dem vor 80 Jahren ein Scheiterhaufen aus all jenem brannte, was der Mob aus Rehburg und Umgebung aus der Synagoge geholt hatte, geht die Gesellschaft wenige Minuten später auf
ihrem Weg zu der Schule vorbei. Sehr nah werden auch so die Ereignisse, die sich damals abspielten – genau an jenem Ort.
Die Schüler der zehnten Klasse der Wilhelm-Busch-Schule sind unterdessen leicht nervös. Solch ein Gespräch wie das, das nun vor ihnen liegt mit Wettberg und Tonne, haben sie noch nie geführt. Intensiv haben sie sich vorbereitet, haben sich zwei Monate lang mit Nationalsozialismus, Holocaust und mit der Geschichte der Rehburger Gemeinde befasst, um nun Antworten auf ihre Fragen von ihren Gesprächspartnern zu erbitten. Fragen zur Zeit des Nationalsozialismus und solche, bei denen es um die Bedeutung für heute geht. Diese Bedeutung und das, was heutzutage an Ausgrenzungen und Übergriffen wieder geschieht, rückt schnell in den Mittelpunkt der Diskussion. Wettberg erzählt davon, wie es ihr als Jüdin in Deutschland ergeht. Sie sagt: „Ich bin Deutsche!“ Spricht davon, dass sie gerne hier lebt. Aber auch davon, dass Synagogen immer noch – und wieder mehr – bewacht werden. Von den Mails, die sie bekommt, nennt sie ein Beispiel: „Dich haben wir zu vergasen vergessen – aber das holen wir noch nach.“
Tonne erzählt konsterniert von einer aktuellen Diskussion in Nordrhein-Westfalen. Dort stehe die Frage im Raum, ob deutsche Kinder gegenüber Flüchtlingen bevorzugt am Unterricht teilnehmen dürfen. „Das Unvorstellbare von damals hat mit genau solchen Diskussionen angefangen“, sagt er.
„Wie können wir denn aus den Fehlern der Vergangenheit lernen? Und kommt das wieder?“, fragt einer der Schüler. Erste Anzeichen gebe es, antwortet Wettberg und rät: „Wir müssen vorsichtig sein.“ Es dürfe nicht wieder passieren, schließt sich Tonne an – und das sei ein Auftrag an jeden Einzelnen. Genau jetzt gehe es darum, schon den Anfang zu stoppen. Tage wie jener, an dem Menschen gemeinsam die Erinnerung wach halten an das Unvorstellbare, das vor ihren Haustüren begann, und an dem solche Gespräche möglich sind wie dieses zwischen Ingrid Wettberg, Grant Hendrik Tonne und den Schülern, sind sicherlich ein guter Anfang.
Ein Beitrag zu der Verlegung der Stolperschwelle und dem anschließenden Gespräch wurde am Sonntag, 4. März, 19.30 Uhr, im NDR-Fernsehen auf „Hallo Niedersachsen“ gesendet.
Zum Beitrag des NDR über die Verlegung der Stolperschwelle geht es >>hier<<.
Unser Dank für die Veranstaltung gilt vielen Menschen:
Heidtorstraße 1
31547 Rehburg-Loccum
Tel.: (0174) 9139598
arbeitskreis@stolpersteine-rehburg-loccum.de
Arbeitskreis Stolpersteine Rehburg-Loccum
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„Faktencheck zur NS Zeit für Schüler“
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Alte Synagoge Petershagen
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