Tetyana Osnatsch, *1922

1942 aus der Ukraine in das Ostarbeiterlager Steyerberg verschleppt

 

1945 von der Britischen Armee befreit und in Bad Rehburgs Hospital Montgomery verlegt

2. Juli 1945 in Bad Rehburg gestorben

 

Grabstein auf dem Ehrenfriedhof in Bad Rehburg

 

Von Tetyanas Schicksal haben wir durch Martin Guse, Geschäftsführer der Dokumentationsstelle Pulverfabrik Liebenau, erfahren. Er hat nicht nur zahlreiche Dokumente über sie und ihre Familie gefunden, sondern ist 2012 auch Tetyanas Nichte Nadeshda in der Ukraine begegnet.

 

Hintergrund zur Pulverfabrik:
Zwischen den Ortschaften Liebenau und Steyerberg entstand ab Sommer 1939 der ausgedehnte Rüstungskomplex der Pulverfabrik Liebenau. Für die Schiesspulverproduktion ließ das Oberkommando des Heeres auf einer Waldfläche von 12 Quadratkilometern 400 getarnte Produktionsgebäude sowie acht Stein- und Barackenlager als Wohnunterkünfte errichten. Bis 1945 setzte die Firma „Eibia GmbH“ circa 20.000 Fremd- und Zwangsarbeiter*innen aus verschiedenen europäischen Nationen ein. Mehr als 2.000 von ihnen – in der Mehrzahl sowjetische Kriegsgefangene sowie osteuropäische Häftlinge des „Arbeitserziehungslagers Liebenau“ –  starben durch Mangelerkrankungen, Hunger und Schläge sowie Erschießungen und Hinrichtungen.

Pulverfabrik Liebenau (martinguse.de)

Schicksal: 

 

Tetyana Osnatsch wurde am 6. Januar 1922 in Iwot, einem kleinen Dorf im Nordosten der Ukraine, geboren. Dort lebte sie mit ihren Eltern Michaiyl und Anastasiya Osnatsch, ihren Schwestern Pelageya und Mariya sowie Bruder Vitaliy. Tetyana besuchte die Dorfschule Iwots bis 1939.

 Nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht wurde sie 1942 gemeinsam mit ihrer Schwester Pelageya nach Deutschland verschleppt. In der Pulverfabrik Liebenau mussten die beiden jungen Frauen als Zwangsarbeiterinnen Munition herstellen. 1943 erkrankte Tetyana dort an Lungentuberkulose.

Als die britische Armee im April 1945 die Zwangsarbeiter in der Pulverfabrik befreite, wurde Tetyana in das Militärkrankenhaus „Hospital Montgomery“ in Bad Rehburg eingeliefert.

Dort starb sie am 2. Juli 1945 in den Armen ihrer Schwester Pelageya. Sie wurde auf dem Ehrenfriedhof Bad Rehburgs beerdigt.

 

 

Der Besuchsbericht von Martin Guse: 

Einen Einblick in die Pulverfabrik Liebenau haben wir 2020 während einer Exkursion von Martin Guse bekommen.
Einen Einblick in die Pulverfabrik Liebenau haben wir 2020 während einer Exkursion von Martin Guse bekommen.

April 2012. (…) Es folgte der Besuch in Iwot.

Tetyana, Natalia, Ljuba und ich blieben an diesem Tag noch im Dorf Iwot. Schließlich sollte sich ein weiterer Kreis schließen: Die Nichte von Tetyana Osnatsch, Nadeshda, erwartete uns. Nadeshda bewirtete uns nach allen Regeln der ukrainischen Gastfreundschaft, hatte zuvor das Foto von Tetyanas Grab von Natalia zugeschickt bekommen. Sie war sehr gerührt, sprach von „guten Seelen“, die das ermöglicht hätten, erzählte und sang für uns. Sehr emotionale Momente. Nein, eine Reise nach Liebenau und Bad Rehburg könne sie aus familiären Gründen nicht wagen. Doch sie dankte noch einmal eindringlich für unsere Mühen, sie ausfindig gemacht zu haben. Sie wisse nun, wo das Grab sei und dass es gepflegt werde. Und wir mögen für sie auf Tetyanas Grab eine Blume pflanzen. Wir versprachen, das zu tun.

aus: Martin Guse: Iwot – ein ukrainisches Dorf und die Zufälle, in: Rüdiger von Hanxleden (Hg.), Russisches Kriegstagebuch. Eberhard von Hanxleden; Kronshagen bei Kiel/Dresden (Book On Demand) 2012, S. 585 - 596

 

Aus den Schilderungen Nadeshdas:

 

Ein Familienfoto der Familie Osnatsch. Tetyana ist in der hinteren Reihe mittig zu sehen.
Ein Familienfoto der Familie Osnatsch. Tetyana ist in der hinteren Reihe mittig zu sehen.

Vier Kinder gab es in der Familie von Michail und Anastasya Osnatsch: den ältesten Sohn Vitaliy (Geburtsjahr unbekannt), Tetyana (*1922), Pelageya (*1923) und Mariya (*1924).

Vater Michael Osnatsch war Dreher von Beruf und arbeitete in einem Werk in der nahe gelegenen Stadt Schostka.

Der Älteste, Vitaliy, wurde zu Kriegsbeginn in die Armee eingezogen und diente in einer Panzereinheit. Er verlor im Krieg ein Bein. Familie Osnatsch steht auch heute noch mit seinen Kindern und Enkelkindern in Verbindung.

Vitaliys Schwester Tetyana war in der 1918 gegründeten Jugendorganisation der KPdSU aktiv. Eine überzeugte Kommunistin. Sie engagierte sich in vielen Bereichen, zeigte ausgezeichnete Schulleistungen und war offensichtlich ein ansehnliches Mädchen.

Nicht weniger aktiv war ihre ein Jahr jüngere Schwester Pelageya. Sie hatte einen willensstarken Charakter, stellte sich jedem Problem und war sehr unabhängig. Pelageya hatte ein Verhältnis mit Michael, einem jungen Mann aus dem Dorf, das von ihren Familien jedoch nicht gebilligt wurde.

Die Familienlegende besagt, dass der Vater von Michael alle drei Schwestern Osnatsch auf die Liste zum Abtransport nach Deutschland setzte. Als die Vorladung ankam, beschmierte sich die Jüngste, Mariya, mit Asche, kleidete sich in Lumpen, und lief davon in den angrenzenden Wald.

Mariya entkam. Ihre Schwestern wurden nach Deutschland verschleppt.

 Pelageya kehrte nach dem Krieg nach Iwot zurück und berichtete ihrer Familie vom Leidensweg Tetyanas. Zur Zeit der Befreiung des Lagers in Steyerberg sei Tetyana bereits sehr schwach und dem Tod nah gewesen. Sie hatte Pelageya beschworen, sie nicht zurückzulassen und um jeden Preis nach Hause zu bringen. "Ich möchte an der Schwelle des Elternhauses sterben", sagte sie ihr und weinte bitterlich.  Sie sei dann nach Kriegsende im Sanatorium in Bad Rehburg gestorben,
Pelageya starb am 21. April 2009 in ihrer Heimat. Mariya Osnatsch, Tetyanas jüngste Schwester Mariya starb 1976. Deren Tochter Nadeshda brach in Tränen aus, als Martin Guse ihr die Kopien von bisher unbekannten Briefen ihrer Tante Tetyana überreichte. Diese Briefe hatten ihr Ziel – die Familie – nie erreicht, sondern waren durch die Kriegswirren auf Umwegen ins Staatsarchiv Sumy gelangt. Besonders bewegte sie eine an ihre Mutter adressierte Postkarte vom August 1943.

 

Die Postkarte an Schwester Mascha von 1941:

Einer der Briefe, die Tetyana aus Liebenau an ihre Schwester Mariya schrieb. Er kam niemals dort an:

Guten Tag Mascha! Ich habe beschlossen, Dir persönlich zu schreiben, mein weißköpfiges Schwesterchen. Ich kann es Dir kaum beschreiben, wie sehr ich Dich wiedersehen möchte. Ich würde Dir viel erzählen. Nun also Mascha habe ich das Leben tiefer kennengelernt… Und gerade jetzt, wenn man Tag um Tag verlebt. Ich habe Euch schon geschrieben, dass ich heutzutage nicht arbeite, sondern mit dem Krankenschein leben muss, seit dem 3. V. 1943. Woran ich erkrankt bin, habe ich auch schon berichtet. Aber Ihr braucht nicht so besorgt sein um mich. Es ist mir so beschieden worden. Mama, nehmen Sie nicht übel, dass ich das an Mascha schreibe, es ist egal. Vater, gerade mit Ihnen würde ich so gerne sprechen wollen, schreiben lohnt sich nicht, zu wenig Platz. Mascha, Du hast nach H.I. gefragt. Es gibt ihn nicht, er ist zu Grischa Rudtschenko umgezogen, auch wie Kolja Martschenko und Petja Belous. Nun entschuldigen Sie, dass ich nichts Gutes berichten kann. Ich erwarte einen Brief von Ihnen. Einen Gruß von Polka an Onkel Wanja. Kuss Tatjana

Quelle: Staatsarchiv des Gebietes Sumy (Ukraine), Bestand P – 7651, Opus 7, Band 54, Karte 94/95 = Osnatsch, Tetyana

 

Das Verhör:

Pelageya wurde nach ihrer Rückkehr in die Ukraine zweimal vom KGB verhört. Zunächst in 1945, ein weiteres Mal 1952. Auszüge der Abschrift aus dem zweiten Protokoll:

 1923 im Dorf Iwot, Kreis Schostka geboren; absolvierte die chemische Fachschule in Schostka und konnte diese wegen der Besatzung nicht beenden; hatte eine ältere Schwester namens Tetyana (Jahrgang 1922), mit der sie gemeinsam zur Zwangsarbeit in die Pulverfabrik Liebenau deportiert worden ist; (…): „Ich habe Pulver in verschiedene Längen und Größen geschnitten und in die Wannen gestapelt. Meine Schwester arbeitete in der gleichen Fabrik, für 9 Monate. Wenig später erkrankte sie und wurde in eine einzelne Baracke verlegt.“ Die Schwester wurde nach der Befreiung untersucht und man stellte eine Tuberkuloseerkrankung fest; der englische Arzt hat sie in ein Sanatorium in Bad Rehburg eingewiesen:

„Die Engländer haben ein Fahrzeug zur Verfügung gestellt. (…) Ich bin mit ihr gefahren, um sie dort zu pflegen. Ich habe dort bis zum 02.07.1945 als Pflegerin gearbeitet. Wir hatten ein Einzelkrankenzimmer. Sie wurde von den italienischen Ärzten unter Kontrolle der englischen Ärzte behandelt. Der Leiter des Sanatoriums war damals ein Serbe, den Namen wusste ich nicht. 

Am 2. Juli 1945 starb meine Schwester und ich habe sie dort beerdigt. Nach ihrem Tod habe ich mich an den serbischen Leiter gewendet. Er konnte etwas russisch und sagte mir, dass ich mir in einer Kammer ein paar Kleider aussuchen dürfte. Er hat mir einen Wagen zur Verfügung gestellt. Darauf musste ich vier Tage warten. Ich habe in diesen vier Tagen nichts getan, nur das Grab meiner Schwester gepflegt, Blumen gebracht und es sauber gemacht. Dann man hat mich in ein sowjetisches Lager in der sowjetischen Zone (Frankfurt/Oder) gefahren.“;

Im Bad Rehburg gab es weitere ukrainische Patient/innen, die zuvor in der Pulverfabrik schuften mussten: Zum Beispiel Tatjana Schelest aus Dneprpetrowsk, die bereits im „Ostarbeiterlager“ Steyerberg als Schwester gearbeitet hatte und nun dort zur Betreuung der sowjetischen Patient/innen eingesetzt war - einschließlich ihres leiblichen Bruder Wassily Schelest (geb. 05.05.1925, gest. 03.06.1945);

Pelagaeja bekam nach dem Krieg unverheiratet ein Kind; verschwieg beim Lebenslauf den Einsatz in Deutschland und berichtete im Jahr 1952 unter Druck des Geheimdienstes von Scham, in Deutschland gearbeitet zu haben;  erklärte damit auch ihr bisheriges Schweigen darüber; sie habe ein kleines Kind und befürchtete, als ehemalige „Ostarbeiterin“ keine Arbeit zu bekommen. Auf massive Vorwürfe gab sie eine „Schuld“ zu, für die Deutschen Pulver und Waffen gegen das eigene Land hergestellt zu haben, betonte aber zugleich auch die Unfreiwilligkeit dieses Einsatzes.

Quelle: Staatsarchiv des Gebietes Sumy (Ukraine), Bestand 7641; Op 54; Bd. 599 = Pelagajea Osnatsch – Kopie des Originals und deutsche Übersetzung im Archiv der Dokumentationsstelle Pulverfabrik Liebenau

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